Einführung

Vorwort von Karl Walker, dem Herausgeber der 9. Auflage.

Die »Natürliche Wirtschaftsordnung« ist das Standardwerk der Freiwirtschaftslehre. Mit diesem Werk hat ein neuer Trieb am Baum der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung ausgeschlagen; ein eigenartiger Trieb, der sich aus den bis jetzt bestehenden Lehrmeinungen sowohl Bestätigungen wie auch den Widerspruch holt und somit weder mit den Lehren des klassischen Wirtschaftsliberalismus eines Adam Smith, noch mit den dagegenstehenden Theorien des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ eines Karl Marx zusammenwachsen kann. 

Es gibt für die Freiwirtschaftslehre, die als Wissenschaft in der Tat zwischen diesen beiden Zweigen wirtschaftstheoretischer Vorstellungen angesetzt hat, nur eine Möglichkeit: kompromißlos und dem Widerspruch von beiden Seiten trotzend das zu entfalten, was in ihr steckt. Es ist unerhört bedeutungsvoll, was hierbei zutage treten kann, denn die Fragen, um die es geht, haben zwar einige Generationen hindurch die Gelehrten beschäftigt – heute aber stehen sie im Vordergrund unseres Lebens und an ihrer Lösung hängt mehr, als sich in Worte fassen läßt. 

Es mag nicht in allen Fällen angebracht sein, das, was bewiesen und aufgezeigt werden soll, schon gleich vorauszuschicken. Aber hier ist es eine Notwendigkeit, oder mindestens dem Verständnis der Sache dienlich, diesem vielleicht gewichtigsten Werk unseres Jahrhunderts die richtige Einstellung des Lesers zu erwirken. 

Wer dieses Buch zur Hand nimmt, darf wohl vorher darauf aufmerksam gemacht werden, was er erwarten kann; aber er muß auch wissen, was er nicht erwarten darf. 
Er darf erwarten, daß er in Bezug auf die Erkenntnis und Darlegung ökonomischer Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten eine Lehre von vollendeter Schlüssigkeit und ungeheuerlicher praktischer Bedeutung für das soziale Leben kennenlernen wird. Doch er darf nicht erwarten, daß ihm die Wahrheit, die wissenschaftliche wirtschaftstheoretische Erkenntnis zu jeder Sonderfrage und jedem Unterthema schon in diesem Buch in ausgeschliffener wissenschaftlicher Form unterbreitet wird. 

Der Verfasser dieses Werkes war kein Fachgelehrter, sondern er war einer jener begnadeten Menschen, die es in der Geschichte des menschlichen Fortschritts, der Erfindungen und Entdeckungen schon häufig gegeben hat, die, auf einem anderen Standort stehend als die Zünftigen, von ihrem Blickfeld aus plötzlich überraschende Einsichten in ein Problem und in die Möglichkeiten seiner Lösung bekommen. Dies ist es, was dem Begründer der Freiwirtschaftslehre widerfahren ist, ohne daß er mit der Absicht auf derartige Entdeckungen ausgezogen war. Aber in solcher Lage ohne jede fachliche Vorbildung die Bedeutung der Sache zu erkennen, zu sehen, worauf es ankommt, aufzuspüren, wie die untergründige Gesetzmäßigkeit verläuft, und zu entdecken, wo die 
Ansätze zu ganz neuen, ungeahnten Möglichkeiten liegen, das ist noch immer und allezeit das Kennzeichen wahrhafter Genialität gewesen. Und das bleibt es auch dann, wenn die Wiedergabe der neuen Erkenntnisse formlos und unbändig wie ein wilder Sturzbach, aber mit der ganzen Gewalt eines großen Anspruchs in die geheiligten Gefilde der wissenschaftlichen Forschung einbricht und einige säuberlich aufgestellte Regeln und Figuren umwirft.
Mit dem Genie über Formen zu richten, das ist naiv und anmaßend zugleich. 

Dennoch wollen wir keinesfalls verkennen, daß auch die Darstellung der Freiwirtschaftslehre in methodisch-wissenschaftlicher Aufgliederung eine Notwendigkeit ist. 
Viele Einzelfragen, die zunächst einmal nur in den Grundzügen beantwortet sind, erfordern eine sorgfältige spezielle Behandlung. Ferner ist es sehr wesentlich, die Verbindungslinien von der neuen Lehre in allen ihren Einzelfragen zu den früheren Ansätzen gleichartiger Erkenntnisse zu ziehen. Erst diese methodische Kleinarbeit, die noch nicht getan ist, wird einmal aufzeigen können, wie sehr die Freiwirtschaftslehre nach unzähligen Ansätzen zum Richtigen den endlich gelungenen Durchbruch zur vollendeten Klarheit bedeutet. 

Silvio Gesell wußte, daß die Arbeit der Wissenschaft für seine Lehre wichtig ist. 
Schon in einer seiner ersten Veröffentlichungen sprach er die Hoffnung aus, daß sich jemand finden möge, der seine Lehre in die Formen wissenschaftlicher Darstellung übertragen kann (siehe »Nervus Rerum«, Buenos Aires 1891, S. 84). Bis heute liegt aber noch keine diesen Anforderungen genügende umfassende Gesamtdarstellung vor, trotz des bereits beachtlichen Umfangs der eigenen Literatur der Freiwirtschaftsbewegung. 
Mit der Entwicklung der Verhältnisse, die in zunehmendem Maße die Bedeutung seiner Lehre bestätigten, hat Gesell selbst wiederholt eine vollkommene Neubearbeitung seines Hauptwerkes erwogen; zur Ausführung seines Vorhabens kam er jedoch nicht mehr. Im März 1930 nahm ihm der Tod die Feder aus der Hand. 

Nach Gesells Tod kam im Stirn-Verlag, Leipzig, die 7. Auflage der »Natürlichen Wirtschafts-Ordnung« heraus; diese Auflage war redigiert von Dr. Landmann und nach dessen frühem Tod von Hans Timm. Die 8. Auflage war im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr möglich. Sie ist in der Schweiz, im Verlag Genossenschaft Freiwirtschaftlicher Schriften, Bern, erschienen. Für die vorliegende 9. Auflage, die wieder in Deutschland erscheinen kann, ist die ehrenvolle Aufgabe der Herausgeberschaft von seiten des Verlages mir übertragen worden. 

Ich glaube, es dürfte dem Leser für die richtige Beurteilung dieses Werkes dienlich sein, wenn ich kurz angebe, wie ich diese Aufgabe verstehe und anzufassen gedenke. 
Obwohl eine völlige Neubearbeitung des Werkes in der Absicht Gesells lag, und obwohl es klar ist, daß manche Teile in der Zwischenzeit eine Weiterentwicklung erfahren haben, ist es selbstverständlich nicht angängig, fremde Gedanken und Überlegungen in die Originalfassung des Gesellschen Werkes hineinzuarbeiten. Dieses Werk soll für die wissenschaftliche Forschung das Quellenwerk, den reinen Urtext der Gesellschen Fassung darstellen, unbeschadet dessen, daß hier vieles erst in den Grundgedanken zu erkennen ist, was in der Zwischenzeit praktisch weiterentwickelt wurde. Diese Weiterentwicklung bezieht sich dabei nicht nur auf die speziellsten Vorschläge Gesells, etwa auf die Technik der Freigeld-Reform, sondern sie bezieht sich auch auf sehr wesentliche seiner Forderungen, die in der Zwischenzeit unabhängig von ihm von den bedeutendsten Vertretern der Nationalökonomie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und Methoden ihrer Fachwissenschaft aufgestellt und bestens fundiert wurden. Es ist wichtig, das zu erwähnen, denn wenn Gesell in diesem Werk z. B. etwas fordert, das man heute mit „Stabilität der Kaufkraft des Geldes“ bezeichnet, und wenn er die Grundsätze anrührt, nach denen der „Preis des Geldes“ ermittelt werden kann, dann könnte ein Nationalökonom vom Fach angesichts der Arbeiten von Knut Wicksell, von Hawtrey, von J. M. Keynes, Irving Fisher, Cassel, Bellerbey, Albert Hahn, Grote-Mismahl und vielen anderen zur Frage der Indexwährung meinen, Gesell renne offene Türen ein. Diese Meinung wäre aber total abwegig, denn was in diesem Buch steht, das hat Gesell vor einem halben Jahrhundert vertreten, als an den Universitäten die orthodoxe Theorie vom „inneren Wert des Goldes“ herrschend war! 
Hier handelt es sich um den Urtext seiner ersten Darlegungen in geschlossener Form, und es ist nicht unsere Aufgabe, diesen Urtext durch eine andere, mit wissenschaftlich-statistischen Beweisen vollkommener fundierte Fassung zu ersetzen. Das sind Aufgaben, die in anderen Veröffentlichungen zur Freiwirtschaftslehre berücksichtigt werden müssen. 

Im Zusammenhang mit diesen Grundsätzen für die Herausgabe der neuen Auflage dieses Werkes muß ich nun den Kenner der 7. und 8. Auflage davon unterrichten, daß und warum die von mir redigierte Auflage an die 6. Auflage anschließt. 

Die 7. Auflage ist als erste Auflage nach dem Tode Gesells erschienen. Wie der Herausgeber Dr. Landmann in seinem Vorwort (s. S. 30) erwähnt, hat er sich auf Grund hinterlassener Aufzeichnungen Gesells veranlaßt gesehen, im III. Teil mit „Kapitel 14“ eine Ergänzung zum Thema des „Bargeldlosen Verkehrs“ einzurücken. Diese –- im übrigen auch nur ein Fragment darstellende Ergänzung – ist inhaltlich anfechtbar, sie trifft nicht die Problematik der Sache und führt zu Widersprüchen. 

Zweifellos hat der Herausgeber den Text zu dieser Ergänzung irgendwo in Gesells Hinterlassenschaft gefunden; es scheint ihm jedoch entgangen zu sein, daß aus Gesells Feder noch andere und gründlicher durchgearbeitete Darlegungen zu diesem Thema existieren, so daß der Autor wohl kaum die fragliche Fassung für die Neubearbeitung seines Hauptwerkes ausgewählt hätte. Dr. Landmann ist im übrigen aber selbst mitten aus seiner Arbeit heraus vom Tod überrascht worden, und so erfolgte die Herausgabe so, wie er sie vorbereitet hatte, jetzt auch unter der Redaktion von Hans Timm offensichtlich ohne nochmalige kritische Prüfung. 

Beide Herausgeber haben übersehen, daß sich das „Kapitel 14“ überhaupt nicht in die Freiwirtschaftslehre einfügen läßt und daß Gesell selbst schon im Jahre 1920 im Anschluß an die im Oktoberheft der Zeitschrift »Technik und Wissenschaft« veröffentlichte Kritik des Freigeldes durch Dr. Heyn eine Abhandlung geschrieben hat, die wissenschaftlich einwandfrei war und den ganzen Komplex des „bargeldlosen Verkehrs“ vollkommen schlüssig in seine Lehre einordnete. 

Auf diese letztgenannte Tatsache gestützt, halte ich es für gerechtfertigt, den Fehler der 7. und 8. Auflage zu korrigieren und dieses Kapitel, das nachweisbar von Gesell schon 10 Jahre zuvor überholt war, wieder aus dem Haupttext seines Werkes zu entfernen. 

Für diejenigen Leser, die ein wissenschaftliches Interesse an der Gegenüberstellung haben, ist das erwähnte Kapitel zusammen mit den Abhandlungen Gesells aus den Jahren 1921 und 1923, die diesem gleichen Thema galten, im Anhang (S. 363) der vorliegenden Ausgabe zu finden. 

Weiterhin habe ich keinerlei textliche Veränderungen vorgenommen. Anmerkungen und Hinweise auf den derzeitigen Stand der Entwicklung sind ebenfalls im Anhang zu finden. Die Illustrationen – insbesondere des Freigeldes – sind an Hand der bekanntesten Vorlagen aus der Freiwirtschaftsbewegung gegenüber den früheren Ausgaben graphisch verbessert. Ich hoffe, damit allen Anforderungen Genüge getan zu haben und wünsche diesem Werk die Verbreitung, die ihm gebührt. 

 Berlin, im März 1949. 

 Karl Walker.