Der tägliche Egoismus im Straßenverkehr

Berlin ist ein heißes Pflaster, keine Frage. Seit über 50 Jahren bin ich überzeugter Radfahrer, habe früher auch mal als Fahrradkurier gearbeitet und gehöre nicht zu der Kategorie von Radfahrern, die auf einer stark befahrenen Straße Angstschweiß auf der Stirn entwickeln. Ich schätze auch eine sportliche Art, mich mit dem Rad fortzubewegen, hasse aber Verkehrsteilnehmer jeglicher Couleur, die nach dem Motto leben: „Passen Sie doch auf, wo ich komme!“ und unter Geburtsrecht scheinbar verstehen, dass sie von Geburt an im Recht sind.

Ein ewiger Disput besteht zwischen Rad- und Autofahrern und die meisten haben eine Menge zu mecken über die Vertreter der jeweils anderen Gattung. Ich selbst kenne die Straße aus beiden Perspektiven und halte mich seit eh und je mit Erfolg an eine einfache Prämisse: Alle anderen sind blind. Natürlich stimmt das so nicht, aber ich kann kaum zählen, wie oft mich mich diese Prämisse schon vor heikelen Situationen behütet hat. Im Zweifelsfall habe ich wenig davon, im Sinne der StVO Recht zu haben, ja manchmal frage ich mich, ob diese Regeln nicht mehr Probleme verursachen, als sie vermeiden. Irgendjemand schlug einmal Schwertklingen statt Airbags vor – das würde für eine verantwortungsvolle Fahrweise sorgen. Das klingt für mich wesentlich plausibler als die übliche Variante, den Fahrer durch innovative Technik, die ihn auch bei schwersten Crashes unbeschadet läßt, erst recht zu enthemmen.

In den letzten Jahren nimmt aber ein Charakterzug, den fast jeder bis zu einem gewissen Grad besitzt, immer bizarrere Formen an: die Einstellung „ich habe Recht, auch wenn alles dagegen spricht“.

In Francis Ford Copollas „Frankenstein“ rauscht John Cleese in einer Szene durch zwei sich unterhaltende Passanten und sagt daraufhin dreist: „Passen Sie doch auf, wo ich komme.“ Inzwischen scheint dies zu einer weit verbreiteten Grundeinstellung geworden zu sein. Ich wurde schon Zeuge von Verkehrsteilnehmern, die mit ihrem Auto in verkehrter Richtung in Einbahnstraßen einbogen und sich dann lauthals darüber beschwerten, daß sie angehupt wurden. Ja, selbst auf die Tatsache hingewiesen, daß sie es sind, die sich falsch verhalten, brachte sie nicht von der Überzeugung ab, sie seien im Recht. Überzogene Egozentrik und Vollverblödung scheinen also durchaus Hand in Hand zu gehen.

Ein weiteres, vergleichsweise harmloses, dennoch nicht weniger nervtötendes Verhalten ist das jener Autofahrer, die beim Rechtsabbiegen zwar noch rücksichtsvoll genug sind, zu halten, wenn sich ein Radfahrer – der in solchen Fällen Vorfahrt hat – nähert. Offenbar zwingt das Unterbewußtsein aber dennoch dazu, mit dem Wagen so weit einzuschlagen, daß ein einfaches Geradeausfahren des Radfahrers wirkungsvoll unterbunden wird und damit die eigene Überlegenheit demonstriert werden kann. Ich halte das für einen klaren Fall von Nötigung.

Weitere beliebte Verhaltensweisen, die mir das Stoßgebet „Lieber Gott, lass es Ambosse regnen“ entlockt, sind:

  • Auch der dichteste Verkehr in der engsten Gasse hindert einige Zeitgenossen nicht daran, in ignoranter Selbstverliebtheit in zweiter Spur zu parken und damit in beiden Fahrtrichtungen ein Verkehrschaos anzuzetteln, weil sie „nur kurz“ Zigaretten holen oder beim Friseur sind, das Handy klingelt oder sie „nur schnell“ einen Kaffee trinken gehen. Die gleichen Kandidaten werden natürlich sofort cholerisch, wenn vor ihnen jemand in zweiter Spur hält.
  • In solchen Fällen stört auch nicht ein absolutes Halteverbot. Das Einschalten der Warnblinkanlage wird allgemein gerne als Persilschein zum Freiparken fehlgedeutet.
  • Auch Halter hochpreisiger Karossen haben entweder noch nicht gehört, das das Telefonieren am Steuer seit vielen Jahren verboten ist oder können sich wegen der hohen Fahrzeugkosten keine Freisprechanlage dazu leisten. Dass Firmenfahrzeuge ohne eine solche überhaupt noch auf die Straße dürfen, entzieht sich meinem Verständnis, denn deren Fahrer gehören zu den notorischsten Einhandlenkern.
  • Rote Ampeln und Einbahnstraßen zu missachten scheint inzwischen zum Status Quo erhoben worden zu sein. Da scheint es nicht einmal mehr ein Restschuldbewußtsein zu geben.
  • Das Starren auf's Handy – ohne auch nur mit einem halben Auge die Umgebung zu scannen – hat besonders bei Radfahrern und Fußgängern inzwischen absurde Ausmaße angenommen. Dass das Telefonieren auf dem Rad ebenfalls bußgeldfähig ist (nur den Punkt in Flensburg gibt es beim Radfahrer hier nicht), scheint niemanden zu interessieren.